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Die Stimme des Waldes

Diese Jahreszeit und die damit einhergehenden Witterungsbedingungen laden vermehrt zu Erkundungstouren in der freien Natur ein. Einen wahren Augenschmaus hat uns unsere Umgebung dieser Tage präsentiert. Der Löwenzahn (Taraxacum officinale) hatte bereits seine blühende Hochsaison, zurück bleiben die Früchte (Achäne mit Pappus), die wir im kindlichen Sprachgebrauch als „Pusteblume“ bezeichnen. Flieder (Syringa vulgaris), Weißdorn (Crataegus monogyna, Crataegus laevigata) aber auch die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) strecken uns nun mit Stolz ihre Blütenpracht entgegen. 

 

Auch der Wald tischt kräftig auf. Rotbuche (Fagus sylvatica) und Hainbuche (Carpinus betulus) - und natürlich auch die Nadelbäume - haben für diese Jahreszeit kräftig aufgerüstet. Das Blattgrün entfaltet sich. Die Knospenschuppen, die in den kalten Wintermonaten eine schützende Hülle um das junge Pflanzengewebe bildeten, haben ihre Aufgabe erfüllt und werden als wertvoller Humus an die Erde zurückgegeben. Das schützende Schattendach der Laubbäume nimmt nun seine konkreten Formen an. Zugleich wird das Ende des Lebenszyklus der Frühlingsblüher Buschwindröschen, (Anemone nemorosa) Leberblümchen (Hepatica nobilis) oder Lungenkraut (Pulmonaria officinalis) eingeläutet. Ohne Licht ist am Waldboden ein Überleben nur schwer möglich, diese Bodenpflanzen ziehen sich folglich zurück.

 

Unsere faszinierenden Baumfreunde sind im biochemischen Sinne Luftwesen. Sie schaffen es, durch Umwandlungsprozesse aus den Elementen Kohlenstoff (aus CO2), Wasserstoff und Sauerstoff, das Baummaterial wie wir es kennen, herzustellen. Einen verhältnismäßig kleinen Anteil entzieht der Baum in Form von Spurenelementen zusätzlich aus dem Boden. Für mich ist dieser Gedanke faszinierend, mit welch geringen Ausgangsstoffen sich so ein Prachtexemplar über die Jahre entwickeln kann. Darüber hinaus erreichen manche Baumexemplare ein sehr beachtliches Alter. Wie schaffen sie es, ihre Zellen so lange jung und vital am Leben zu erhalten?  

 

Bäume besitzen ein überaus faszinierendes Kommunikationssystem, ein eigenes biologisches Datennetz mit einem reichhaltigen Informationsaustausch. Sie sind mit Mykorrhizapilzen vergesellschaftet wo jeder Waldbeteiligte durch Bereitstellung von Nährstoffen seinen Beitrag zum Wohle aller leistet. Es wurde nachgewiesen, dass Mütterbäume ihre jungen Nachkommen erkennen und diese über ihr Wurzelnetzwerk für ein besseres Wachstum nähren können. Auch wird das Wurzelwachstum in ebendiese Richtung reduziert, sodass für Jungpflanzen die Chance für ein aussichtsreiche Zukunft besteht. Neben dem unterirdischen Informationsaustausch existiert auch eine überirdische Sprache. Mit Hilfe von Duftstoffen kann Baumgefährten Gefahr signalisiert werden, sodass diese sich auf Gefahren wie Parasitenbefall einstellen können. Kurzum: Der Wald ist im ständigen Austausch, eine Wood-Community, die sich auch gegenseitig unterstützt und versucht einander zu helfen. Nehmen wir uns daran ein Beispiel.

 

Hier noch ein wundervolles Zitat von Erwin Thoma, Betriebs- und Forstwirt sowie Buchautor: „Je mehr du dem Holz sein Gesicht lässt, dich über seine Unebenheit, seine Landkarte aus Maserung und Ästen freust, desto mehr wird deinem Blick Halt, Orientierung und Geborgenheit gegeben“. Ich wünsche euch bei eurem nächsten Waldspaziergang einprägsame Hör-, Riech- und Wohlfühlmomente, sowie Orientierung und Geborgenheit beim Anblick unserer sanften Giganten.   

 

Bäume bilden den Schwerpunkt im Modul IV der Ausbildung "Traditionelle Pflanzenheilkunde", Ausbildungsstart am 22. August 2020.